Illustration von Viktor Leugger zum nachfolgenden Text; Porträt Studio
A.W. Schneider
Vorsätze und Wünsche eines Redaktors30. Dezember 1972
Rudolf Steiner hat sich in einem seiner Vorträge
bitterböse über die Zei- tungen geäussert: Wenn über eine Sache in der Zeitung
berichtet werde, sei es der Beweis dafür, dass es sich um etwas Unwesentliches
handle. Das ist ein hartes Urteil; jedoch völlig unberechtigt ist es nicht: Zu
viel Nebens- ächliches und Unnützes füllen die Zeitungsspalten.
Die Vergehen abnorm Veranlagter beanspruchen viel Raum,
Sprünge und Schläge von Muskelprotzen werden liebevoll und
ausführlich beschrieben, und wenn in einem Viertligaspiel nach
vielen Ginggen in die Luft endlich der Ausgleichstreffer fällt, ist die Welt wieder
in Ordnung. Einige Minuten An- strengung genügen, um in der Zeitung
zu erscheinen; einem Lebenswerk steht so viel Ehre nicht zu.
Die «Helden» des Alltags sind nicht
gefragt. Der Arzt, der seine Gesundheit für jene seiner
Patienten ruiniert und trotzdem jeden mit dem freundlichsten Lächeln der Welt und
einem anteilnehmenden «Wie goht's? Wo fehlt's?», begrüsst, existiert für die Zeitung
nicht. Womit nicht gesagt sein soll, es gebe nur solche Ärzte. Es
ist nur ein Beispiel. Nun weiss ich wohl, dass viele Leser
darauf warten, bis ihnen Unfälle und Verbrechen serviert werden, und dass für
andere eine Welt zusammenbricht, wenn der Roman oder die Sportseite ausfällt.
Wenn jedoch die hohe Meinung mancher Zeitgenossen zutreffen sollte, dass
Zeitungen unter anderem das Fortbestehen unserer Demokratie garantieren, dann
müssen gewisse Bereiche des öffentlichen Lebens von ihnen auch noch viel
ausführlicher beackert werden. Ein solcher Bereich etwa wäre «Bildung und
Erziehung».
Eine wichtige Aufgabe sehe ich darin, aus der Flut der
Information vermehrt das auszuwählen, das einem möglichst grossen Leserkreis
gute Dienste leisten könnte; eine weitere, die schlafenden Bürger aufzuwecken,
bevor vollendet ist, was sie gar nicht wollten.
Ein besonderes Anliegen sind mir die Zuschriften. Unsere
Zeitung soll ein Forum sein und eine offene Auseinandersetzung ermöglichen: Die
Leser sollen auch Anstösse geben und zur Meinungsbildung beitragen, nur schon
deshalb, weil sie in manchen Dingen wirklich kompetenter sind als ein Redaktor.
Damit sind meine beruflichen Vorsätze und Wünsche
angedeutet. Im neuen Jahr wird es sich zeigen, was verwirklicht werden kann.
Und für dieses neue Jahr wünsche ich ganz besonders jenen, die von uns
vernachlässigt worden sind, alles Gute und vor allem die Anerkennung und
Wertschätzung, die sie verdienen.
egk, damals Redaktionsmitglied des „Thurgauer
Volksfreund“, unter Zeitdruck und in letzter Minute ... wie damals üblich